Brutalismus
Über den Umgang Chandigarhs mit seinem architektonischen Erbe

Chandigarh

Eine Vorzeigestadt der Moderne sollte die neue Verwaltungshauptstadt Punjabs werden, eine Metropole, gegliedert nach den Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholen. So entstand ein Raster aus 56 Sektoren, jeder etwa 1.200 mal 800 Meter groß und in sich autark. Dazu vier mit besonderen Funktionen. Alle 60 zusammen sollten sie nach dem Vorbild des Menschen funktionieren: mit Herz, Lungen, Kreislauf – und einem Kopf, dem Capitol Complex.
Der Kopf von Chandigarh
Catherine Hug

Was tun mit der in Beton gegossenen Vision einer Stadt, deren Zerfall nach mehr als 60 Jahren unaufhaltsam scheint? Am Beton der Millionenstadt Chandigarh, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts am Reißbrett Le Corbusiers entstanden, nagt der Monsun. Die Möbel, die Pierre Jeanneret eigens entwarf, landeten noch bis vor ein paar Jahren einfach auf dem Sperrmüll. Damals fehlte es an Bewusstsein für den historischen Wert, heute sind es vor allem die Kosten, die eine Sanierung bisher verhinderten. Dabei zählt der Capitol Complex zu den wichtigsten Arbeiten Le Corbusiers und seit 2016 auch zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Der befindet sich ganz oben, in Sektor 1 und besteht aus drei Hauptgebäuden: Parlament, Ministerien und oberstes Gericht. Dazu der Tower of Shadows, eine offene Pavillon-Struktur, mit der Le Corbusier seine Theorie beweisen wollte, dass das Sonnenlicht an allen vier Himmelsrichtungen eines Gebäudes kontrolliert und in einem heißen Land sogar manipuliert werden kann, um die Temperatur zu senken. Aber auch die übrigen brutalistisch anmutenden Bauwerke zeugen von einem geradezu virtuosen Umgang mit Licht und Schatten und der Schönheit des rohen Betons. Le Corbusier gesteht ihm organische Rundungen zu und stellt ihm klare Farben gegenüber. Neben Schattenspielen sind auch tiefe Einblicke erlaubt. „Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper“, sagte Le Corbusier einmal über Architektur im Allgemeinen. Mit dem Capitol Complex in Chandigarh stellte er sein Können in einer neuen Dimension unter Beweis.

Doch es blieb nicht bei der Architektur: Ganz im Geiste der Gebäude vervollständigten die Möbelentwürfe von Pierre Jeanneret, dem Cousin von Le Corbusier und Büropartner, das Projekt zu einem einzigartigen Gesamtkunstwerk. Jeanneret, der ganze 15 Jahre lang in Indien blieb und das Fortschreiten des Projekts vor Ort begleitete, legte für seine Möbel vor allem praktische Maßstäbe an: Es zählten Funktionalität und einfach zu beschaffende Materialien. Heimisches Teakholz und indisches Palisanderholz galten als besonders haltbar und feuchtigkeitsbeständig. Dazu als preisgünstige Ergänzung das traditionelle Rattangeflecht, das den teils wuchtigen Möbeln eine Leichtigkeit mitgab. Hergestellt wurden Stühle, Tische, Sessel, Regale und vieles mehr in lokalen Handwerksbetrieben und unter Zuhilfenahme traditioneller Techniken.

So entstanden ikonische Möbel, nachhaltig produziert und formal eng mit der Architektur des Capitol Complex verbunden: Nicht nur, dass die umgekehrte V-Form der Sitzmöbel an den Zeichenzirkel des Architekten erinnerte, in den Entwürfen von Schreibtischen und Bücherregalen lassen sich auch direkte Verweise auf die Fassaden der Gebäude finden, für die sie entworfen wurden. Jeanneret gelang mit seinen Entwürfen die Verbindung moderner europäischer Ideale mit dem traditionellen indischen Geist. Trotzdem geriet das Design hierzulande in Vergessenheit, in Chandigarh rangierte man die nach Jahrzehnten der Nutzung marode gewordenen Möbel einfach aus und ersetzte sie durch beliebige Billigware – bis die ersten Original-Stühle in den neunziger Jahren auf Auktionen in Europa auftauchten und dort horrende Summen erzielten.

Einige der wichtigsten Werke dieser Zeit sind seit 2019 als Capitol-Complex- Kollektion bei Cassina erhältlich. Ganz im Sinne der Regionalität empfehlen wir die Ausführung in europäischer Eiche.

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