INTERVIEW
Zukunftsvisionen
Interview mit Künstler und Architekt Clemens Gritl

Brutopia

Architekt und Künstler Clemens Gritl kreiert brutale Zukunftsvisionen
Brutopia
Interview: Catherine Hug

Brutalismus galt lange als gescheitert. Zu Unrecht, findet Architekt und Künstler Clemens Gritl. Die von ihm kreierten Betonlandschaften durchlaufen den architektonischen Planungsprozess und bleiben doch brutalistische Utopien. In großformatigen Schwarz-Weiß-Bildern zeigt er grandiose Skulpturalität und stellt zeitgleich die Frage nach der Dysfunktionalität und Maßstabslosigkeit gigantischer Stadtlandschaften.

Woher kommt deine Begeisterung für das Thema Brutalismus?

Es gab da diesen Moment während meines Studiums in Rom. Ich war auf dem Weg vom Flughafen zurück in die Stadt und entdeckte dieses Gebäude am Stadtrand (Anm. d. Red.: il Corviale), einen 1.000 Meter langen Wohnblock, der kurz hinter den Hügeln auftaucht. Der hat mich total in seinen Bann gezogen, so dass ich später noch einmal mit dem Fahrrad hingefahren bin, um ihn mir näher anzuschauen. Ich konnte die Idee hinter dem Gebäude förmlich spüren: eine ganze Kleinstadt in einem einzigen Gebäude. Und auch wenn dieses Gebäude weitaus schlechter und undurchdachter als zum Beispiel die Unité d’Habitation von Le Corbusier ist, hat es mich nicht mehr losgelassen. Eine direkte Folge davon war meine Masterarbeit darüber, eine Analyse brutalistischer Gebäude in Europa, die ich gemeinsam mit einem Kommilitonen angefertigt habe.

Ein Thema, bei dem man erstmal zu wissen glaubt, zu welchem Schluss die Untersuchung führt …

Ganz genau. 2005, als ich in Rom das erste Mal mit dem Thema Brutalismus in Berührung kam, war die einhellige Meinung, dass diese Architekturform schlichtweg gescheitert ist. Es hieß überall nur: „Das ist schlecht.“ Oder: “Don’t do it!” Das hat aber nicht erklärt, warum es diese Zeit überhaupt gab. Als junger Student habe ich diese Großformen deshalb nicht verstanden. Ich habe zwar gespürt, dass ich es mag, es mir aber nicht erlaubt, tiefer in das Thema einzutauchen. Durch die intensive Auseinandersetzung während meiner Abschlussarbeit habe ich dann das erste Mal gemerkt, dass diese Theorie zu sagen, diese Gebäude seien zum Scheitern verurteilt, weil sie so hässlich sind, nicht stimmt. Eine Konsequenz für unsere Arbeit war die Betrachtung eher banaler Dinge wie Pflege, Wartung, Infrastruktur, Anschluss. Wird das Treppenhaus regelmäßig gereinigt oder riecht es im Aufzug nach Urin? Solche Dinge haben einen ganz wesentlichen Einfluss darauf, wie wohl du dich in deinem Zuhause fühlst. Dazu kommt: Arbeiten die Bewohner:innen zwölf Stunden am Tag für wahnsinnig wenig Geld, hat verständlicherweise niemand die Muße, sich um das Haus zu kümmern. Es braucht also neben diesen Dingen auch Menschen, die sich engagieren, sich verantwortlich fühlen. Will man eine funktionierende Gesellschaft schaffen, muss es eine Durchmischung der Einkommensschichten geben. Ein gutes Beispiel ist Alterlaa in Wien: Da gibt es eine Mischung aus Eigentums- und sozial geförderten Wohnungen. Das ist ein Grund, warum dieses Projekt so gut funktioniert. Letzten Endes habe ich das Gefühl gehabt, dass diesen Gebäuden in der öffentlichen Wahrnehmung Unrecht geschehen ist. Aus der Beschäftigung mit Großformen hat sich eine regelrechte Liebe dazu entwickelt. Ich hatte einfach Bock, mal so etwas zu entwerfen, wie eine Art Filmkulisse. Als Architekt:in bist du von vielen verschiedenen Parteien abhängig und ich hatte einfach große Sehnsucht danach, ein Projekt zu machen, das nicht so zusammengeschrumpft wird, wie das meist der Fall ist, sondern das von Anfang bis Ende so sein kann, wie ich das gern hätte.

Trotzdem wirken die Gebäude auf deinen Bildern nicht so, als würden sie funktionieren. Sie scheinen verlassen, fast dystopisch. Warum?

Ich mochte immer diesen Moment, wenn man nach einer durchzechten Nacht um 7 Uhr morgens nach Hause geht. Niemand ist auf den Straßen und die Sonne geht langsam auf. Aber tatsächlich lasse ich es auf meinen Bildern offen, ob es Aufnahmen nach einer Apokalypse sind oder ob gerade niemand auf der Straße ist. Offen bleibt auch, ob die Gebäude funktionieren oder nicht. Es gibt immer ein bisschen Schmutz und Niedergang, aber ich übertreibe es nicht mit der Zerstörung. Ich nehme mir zwar jedes Mal vor, eine Scheibe zu zerbrechen, bringe es aber einfach nicht übers Herz.

Woher kommt deine Inspiration für die Gebäude? Gibt es Vorbilder in der Architektur?

Als ich damit begonnen habe, habe ich mir in der Bibliothek Architekturzeitschriften aus den sechziger und siebziger Jahren angeschaut. Da war zum Beispiel Marcel Breuers Museum in New York, die Arbeiten von Paul Rudolph, aber auch Klassiker brutalistischer Architektur oder Novi Beograd, der neue Teil Belgrads – der seltene Fall einer komplett brutalistischen Stadt. Dabei gab es viele Stadtutopien, die nie über den Modellstatus hinausgekommen sind und die viel extremer und futuristischer sind als alles, was heute als futuristisch verkauft wird. Das hat eine andere Stärke, die von ungebrochenem Optimismus strotzt.

Wenn wir von Modellstatus sprechen – wie entstehen deine Gebäude und wie sehr gehst du ins Detail?

Es beginnt immer mit Handskizzen der Grundidee. Anschließend erstelle ich Grundrisse, Ansichten und Schnitte und am Ende 3D-Renderings. Die Gebäude haben folglich eine innere architektonische Logik.

Es gibt aber bisher keine Innenansichten, kaum Details?

Tatsächlich wird es bald erstmals einen Blick rein geben: Ich bin dabei mit einem Interiorbild anzufangen und habe unglaublich Lust, mit Farbe zu arbeiten. Momentan ist es aber noch ein erstes Rantasten an diese neue Welt.

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