Homestory
Hansaviertel

Leben im Baudenkmal

Einen aktuellen Blick hinter die Fassaden des nicht nur bei Architekten auch heute noch begehrten Wohnraums gewähren Anna Frey und Caterina Rancho in ihrem aktuell erschienenen Buch „Hansaviertel Portraits“ (Distanz Verlag). Über drei der ikonischen Bauwerke und das Leben in einem Baudenkmal lesen Sie hier.
Catherine Hug

Ein kleine Stadt inmitten der Großen, umgeben von Grün, mit 1300 Wohneinheiten, eine Schule, ein Kindergarten, Kirchen, einer Bücherei und einem Einkaufszentrum: Das einst kriegszerstörte Hansaviertel in Berlin ist Zeugnis eines städtebaulichen Experiments und der architektonischen Avantgarde der 50er Jahre. Basierend auf den Prinzipien der Moderne und des Funktionalismus sollte es ein Gegenentwurf
zu den dichten und oft unhygienischen Wohnquartieren des 19. Jahrhunderts sein. Statt geschlossener Straßenblöcke und der Abriegelung des Wohnquartiers zum Tiergarten hin, plante man aufgelockerte Bebauungsstrukturen mit viel Grünfläche. Die Architekten sollten Wohnraum schaffen, der Licht, Luft und Sonne betonte – ein Konzept, das auf die städtebaulichen Theorien von Le Corbusier und anderen modernen Architekten zurückgeht. Mehr als 50 Architekten aus 14 Ländern, darunter namhafte Persönlichkeiten wie Alvar Aalto, Walter Gropius,
Oscar Niemeyer und Arne Jacobsen, beteiligten sich an der Entstehung des Hansaviertels, was zu einer bemerkenswerten architektonischen Vielfalt unter den insgesamt 42 Gebäuden führte.

Das mittlerweile denkmalgeschützte 25 Hektar große Areal ist nicht nur ein beliebtes Fotomotiv unter Architekturfans. Dank durchdachter städtebaulicher Planung und hochwertiger Architektur bietet es seinen Bewohnern auch heute noch eine hohe Wohnqualität in zentraler Lage.

Wohnen wie im eigenen Haus

Zwei Hälften, um ein halbes Geschoss gegeneinander versetzt: das 16-geschossige Punkthochhaus der Niederländer van den Broek und Bakema ist als Split-Level gebaut und beherbergt neben 48 Dreizimmerwohnungen auch 24 Einzimmerwohnungen. Der Zugang zu den Wohnungen erfolgt über einen der insgesamt sechs Flure: in die größeren Wohnungen geht es jeweils auf zwei Ebenen auf- oder abwärts, die Einzimmerwohnungen befinden sich in dem dazwischen liegenden Vollgeschoss. Die Architekten gewinnen so für die größeren Wohnungen Licht aus Ost und West und das Gefühl von einem eigenen Haus im Haus.

Zeitloses Miteinander

Die Wohnung, in der Felix und Flori wohnen, befindet sich in dem der Architekten Bakema und van den Broek konzipierten Hochhaus, das 1959 fertiggestellt wurde. Felix, seine Mutter und sein Stiefvater übernahmen die Maisonette im unsanierten Zustand und entscheiden seitdem gemeinsam über ihre Weiterentwicklung und Nutzung. Ein laufendes Familienprojekt, das die ganze Familie bereichert. Der Grundriss der Architekten blieb unverändert, nur ein Teil der Wand zwischen dem Essbereich und der Küche wich einem großzügigeren Raumgefühl. Und auch die Mischung aus Midcentury, Space Age und 70er Möbeln steht dem Baudenkmal gut zu Gesicht, ohne dabei alt auszusehen.

Viel Licht und sechs Hauseingänge im Luftgeschoss

Ein weiteres markantes Gebäude ist das siebengeschossige Scheibenhochhaus des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer. Niemeyer, seinen Entwurf auf sieben v-förmig gestellten Doppelstützen stellte, war von Le Corbusiers Idee des Modernen Wohnens stark beeinflusst und schuf einen Entwurf mit großzügigen Grundrissen, Loggien und lichtdurchfluteten Räumen. Ein ursprünglich in der fünften Etage geplantes Gemeinschaftsgeschoss musste er, um den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus zu entsprechen, auf einen schmalen Flur reduzieren. So erhielt das Gebäude sechs zusätzliche Dreizimmerwohnungen. Die teilweise von Ost nach West durchgesteckten Wohnungen erforderten bei den Zugängen ein Umdenken: statt langer Flure gibt es gleich sechs Hauseingänge und dazugehörige Treppenhäuser. Ein über Rampen erreichbarer Turm mit zwei Fahrstühlen, die im 5. und im 8. OG halten, erleichtert den Weg zu den oberen Stockwerken.

Flexibel verschiebbar

Die Pläne des Architekten an seine eigenen Bedürfnisse anzupassen, darum ging es Wolfgang, als er die Wohnung im Oscar-Niemeyer-Haus bezog. Statt der von dem brasilianischen Architekten vorgesehenen geschwungenen Schrankwand trennen nun zwei raumhohe Schiebewände aus dunklem Holz den Aufenthalts vom Rückzugsbereich. Die Möbel in seinem Refugium begleiten Wolfgang bereits seit Jahrzehnten. Der größte Teil sind Designklassiker, inmitten derer er die flexiblen Raumgrenzen und einen ungestörten (Durch-)Blick in das Grün des umliegenden Tiergartens, der grünen Lunge der Stadt genießt.

Versetztes Wohnen hinter kunstvoller Fassade

Schon die kunstvoll gestaltete Ostfassade des Scheibenhochhauses von Pierre Vago verweist mit seinen in unterschiedlicher Höhe und Tiefe angebrachten Balkonen auf die besondere Struktur des Hauses. Bei der Planung bediente sich auch Vago des Split-Levels und schuf so Wohnungen mit entweder zwei unterschiedlichen Deckenhöhen oder aber zwei Fußbodenniveaus. Großzügigkeit, viel Licht und ein Haus im Haus-Gefühl entstand so für die Bewohner des neungeschossigen Hauses. Teils als offene Halle konstruiert, sollte das Erdgeschoss nicht nur Zugang zu den Treppenhäusern gewähren, sondern auch als überdachte Spielfläche für Kinder dienen, die direkt in die Grünfläche über geht.

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